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Der ruhige Lauf des Lebensrades

Oder: Warum uns das Spinnen zu uns selbst zurückführen kann



Es ist ein frostiger Morgen im Januar, als Ina und ich uns auf den Weg machen. Eine schmale, sonnenbeschienene Straße führt uns ans Ende eines freundlich blinzelnden Schwarzwaldtals, dann wieder den Berg hinauf, zurück in den Schatten, wo die spärliche Schneedecke noch nicht geschmolzen ist und unter den Schuhen knirscht.

Hier liegt, an den Berg geschmiegt und weit übers Tal hinausblickend, Veronika's Hof. Dunkle Holzbalken verkleiden das alte Haus und vermitteln eine urige Heimeligkeit. Etwas nicht greifbares, mystisches schwebt mit unseren Atemwolken durch die kalte Morgenluft. Zwei riesige Hunde, von denen ich nicht genau sagen kann, ob es nicht eigentlich Bären oder vielleicht Schafe sind, springen uns zur Begrüßung überschwänglich entgegen.

Veronika lädt uns ein in die holzgetäfelte Stube und ich fühle mich sofort eingebettet in ein weiches, zotteliges Gefühl des Angekommen seins.


Überall liegen Felle. Braune, schwarze, weiße, lockige und glatte Felle schaffen auf jeder Holzoberfläche einen gemütlichen Sitzplatz. Gefilzte Körbchen stehen auf dem Tisch, Hausschlappen neben dem Ofen. Gestrickte Schals und Tücher hängen an Haken und Leinen, einige vollendet, andere noch in Arbeit. Ein Zimmer weiter prangt neben dem mit gefilzten Sitzkissen ausgelegten Sofa ein Spinnrad, dem anzusehen ist, dass es oft und rege in Betrieb genommen wird.

Es ist das Haus einer Spinnerin, ganz ohne Zweifel.



Bei Kaffee und Butterbrezeln in der Stube erzählt Veronika von ihrem Handwerk, das Arbeit und Leidenschaft, Broterwerb und Kunst zugleich für sie ist.

50 Schafe besitzt und hütet sie, verarbeitet deren Wolle und dazu noch die Wolle zweier ihr bekannter Schäfer.

Wolle verarbeiten, das heißt zunächst die ungewaschene Rohwolle auslesen, sortieren, entscheiden, was zum Filzen und was zum Spinnen verwendet werden soll. Von diesem Arbeitsschritt erhalten wir eine Kostprobe, drüben in der ans Haus angrenzenden Werkstatt - mit flinken, routinierten Händen trennt Veronika die Spreu vom Weizen, beziehungsweise die verschiedenen Teile der Schur voneinander, je nach Beschaffenheit und Faserlänge. Was nicht weiterverarbeitet werden kann, landet als Mulch & Pflanzenschutz im Garten. Was nicht zum Spinnen geeignet ist, wird zum Filzen verwendet - es entstehen einzigartige "vegetarische" Felle, Sitzkissen und eingefilzte Naturseifen.

Die Rohwolle, die versponnen werden kann, muss nun im weiteren Verlauf gewaschen werden, getrocknet, vom Wollpickel vorbereitet und zum Schluss kardiert, beziehungsweise gekämmt, bevor das Spinnrad sie in Garn & Wolle verwandelt. Manchmal färbt Veronika die Rohwolle vor dem Spinnen noch ein, andere Male färbt sie die fertig gesponnen Wolle, bevor schließlich gewebt, gehäkelt, zumeist aber gestrickt wird.



Der Winter, so erzählt uns Veronika, ist die Zeit des Schaffens und Kreierens, bevor im Frühjahr die Marktsaison beginnt. Mit ihrem Stand zieht sie dann den Sommer über von Markt zu Markt, teils steht sie auf Kunsthandwerkermärkten, zuweilen auch auf Messen im süddeutschen Raum, und bietet ihre handgesponnene Wolle, die gefilzten Felle & Kissen, gestrickte Schals, Tücher & Stulpen an. Auch auf Auftrag arbeitet sie, sofern Zeit bleibt, und Kurse gibt sie im Spinnen, Filzen und Färben. Ich bin beeindruckt. Vom Hüten ihrer Schafe bis zur Weitergabe von Wissen und liebevoll hergestellten Unikaten macht Veronika alles selbst. Sie kommt mir vor wie ein kleines Kraftwerk, ein von Hand betriebenes, magisches. Natürlich will ein solches Gewerbe, das einem präzise abgestimmten Uhrwerk ähnelt, über viele Jahre geduldig aufgebaut werden. Vom Himmel fällt so etwas auf jeden Fall nicht. Seit ihrer Schulzeit schon sei sie von der Handarbeit fasziniert gewesen, berichtet Veronika und schenkt Kaffee nach. Ihre Großmutter habe sie viele Winter dabei beobachtet, wie sie am Kachelofen saß, begleitet vom gleichmäßigen Surren des Spinnrads, und dabei so friedlich, so einig mit sich und der Welt gewirkt habe. Nach dem Tod der Großmutter habe sie das Spinnrad geerbt, und es zunächst als dekoratives Schmuckstück mit nach Hause gebracht. Bis das Spinnrad eines Tages zu Flüstern begann.



Einen Spinnkurs später war ihre Leidenschaft fürs Spinnen endgültig entfacht. Mal mehr, mal weniger Zeit hatte sie für ihr handwerkliches Hobby übrig, als auf die Schulzeit eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau und die Geburt von drei Kindern folgte. So ganz verließen sie Spinnrad und Stricknadeln jedoch nie, und so beschloß Veronika irgendwann, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Eröffnete ein kleines Handarbeitsgeschäft in der Gengenbacher Altstadt, bis ihr vor ungefähr dreizehn Jahren der Hof über den Weg lief, der heute ihre Familie, ihre Tiere und ihr Handwerk beherbergt. Damals, als sie es ihrem feinen Gespür folgend wagte, das Leben & Arbeiten auf dem Hof in Angriff zu nehmen, waren es nurmehr drei Schafe - alles beginnt nunmal im Kleinen. Ihre heute auf über 50 Tiere gewachsene Schafherde geht für Veronika weit über den Wert von reinen Nutztieren hinaus. Es sind Freunde, Herzverwandte. Die Liebe zu ihren Tieren ist spürbar, als sie über deren Ruhe und Gelassenheit spricht, darüber, wie zugänglich, zugewandt und zutraulich sie sind. "Tiere sind ehrlich, aufrichtig", sagt Veronika. "Falsch sein wie Menschen, das können sie nicht."



Wie recht sie hat. Und wie tief eine Verbindung zu Tieren sein kann, die man durch all ihre Lebenszyklen begleitet, mit denen man Seite an Seite wächst... Auch aus ihren fertigen Werkstücken sind Wesen und Energie der Schafe nicht herauszudenken. Ein bisschen Wollfett und ein milder Hauch von Schafstallduft bleiben in der Wolle zurück - gottseidank, denn es handelt sich nunmal um handgefertigte Kunstwerke aus Naturmaterialien, und das darf, soll man sogar wahrnehmen in einer Zeit der industriell produzierten Massenware! Sowohl in der naturbelassenen Optik, als auch der Langlebigkeit, und nicht zuletzt in der warmen, liebevollen Ausstrahlung ihrer Werkstücke liegt deren Magie und Besonderheit. Hierin findet sich für Veronika übrigens auch das Potenzial, die Heilkraft dieses uralten Handwerks. Im Selbst-Schaffen, im Schöpfen, im emsigen Tun unserer wichtigsten Werkzeuge, nämlich der Hände, kommt der vom Alltag aufgewühlte Geist zur Ruhe, beginnen die Gedanken auf eine wohltuende Weise zu schweifen. Die meditative Tätigkeit und nicht zuletzt das gleichmäßige Surren des Spinnrades sind wie ein Gegenmittel zum ungnädig malmenden kapitalistischen Radwerk, das unsere Gesellschaft dominiert. Das Spinnen, erklärt sie, schenkt uns die Gelassenheit, die Stille, in der wir fern des Weltentrubels wieder wirklich ins Lauschen kommen.

Ins Hineinspüren in unsere innere Landschaft, sodass verworrene Fäden sich neu ordnen und Knoten sich lösen können. "In Hektik kann man nicht spinnen.", sagt sie, und dieser so einfache Satz hallt noch lange in mir nach.



Die jahrelange Erfahrung erlaubt es Veronika, in der Arbeit ihrer Kursteilnehmer am Spinnrad auch immer eine Art Spiegel der Seele und der Gefühlswelt wahrzunehmen. Wer im Leben Schwierigkeiten mit dem Loslassen habe, neige gern dazu, dem Rad zu wenig Wolle zu füttern und den Faden zu durch hartnäckiges Festhalten zu "überdrehen", beobachtet sie ein ums andere Mal. Auf Kinder, insbesondere auf unruhige, hibbelige Kinder, habe das Spinnrad eine fast hypnotische Wirkung - fasziniert von seiner gleichförmigen Bewegung habe sich noch jedes Kind bei dessen Anblick rasch beruhigt. Nicht umsonst ist von all den traditionellen Handwerksformen das Textilhandwerk, das Spinnen und Weben im Besonderen, am engsten mit einer zeitlosen mythologischen Bedeutung verknüpft. Kaum ein Märchen, kaum eine Volkssage kommt aus, ohne zumindest einen Bezug zum Spinnen, Weben oder Nähen herzustellen. Da ist die Rede von jungen Mädchen, die sich an der Spindel stechen, und davon eingeleitet ihre Initiationsreise ins Frausein beginnen. Von Männlein, die Mithilfe des Spinnrades Stroh zu Gold machen können. Oder von alten Weibern, die die Fäden des Schicksals spinnen und verweben - diese sogenannten drei Spinnerinnen existieren durch fast alle Kulturen hinweg im Volksglauben.

Fast immer ist mit dem Spinnen & Weben eine Art von Zauber, von Magie verknüpft. Das Spinnrad steht als Metapher für das sich beständig und unaufhaltsam drehende Rad des Lebens, das Garn spinnen wird mit dem Schicksal assoziiert.

 

Ob es daran liegt, dass das Wort "spinnen" im deutschen Sprachraum irgendwann eine so negative Behaftung erlangte? War die Magie, die die alten Weiber an ihren Spinnrädern betrieben, vielleicht für den ein oder anderen zu kraftvoll, zu unverständlich?

Auch darüber philosophieren wir, während wir drei Weiber in der warmen Stube unsere Geschichten spinnen.

 

"Manche spinnen laut, andere leise", lacht Veronika. "Ich gehöre zu den leisen."



Reine Idylle und verträumte Hofromantik sind das traditionelle Textilhandwerk allerdings nicht, auch wenn es gerade im Kontrast zur schnelllebigen Textilindustrie der Moderne so klingen mag. Harte Arbeit, viel Disziplin und eine erhebliche Portion an Planungsfähigkeit zählt Veronika auf, als sie über die geschäftlichen Seiten des Handwerks spricht. Wer von seiner Kunst leben können will, muss imstande sein, sich einen produktiven Rahmen zu schaffen, der gleichzeitig genug Raum für Kreativität und Freude lässt.

Manchmal, so gesteht Veronika, sei es schwierig für sie, zwischen all dem Schaffen, Tun und Planen auch ans Aufhören, ans Ausruhen zu denken. Dann melde sich der Körper - immerhin ist ihr Handwerk zumeist körperliche Arbeit - und erinnere sie daran, innezuhalten. Mittlerweile seien ihr Antennen aber so fein, dass sie gut auf die Zeichen ihres Körpers zu achten wisse. Es sei eine schöpferische Müdigkeit, mit der sie dann zu kämpfen habe, die auch eine Art von Erfüllung mit sich bringe.

Veronika's Kraft liegt im Vereinen, im Verspinnen von augenscheinlich weit auseinanderliegenden Realitäten. Künstlerherz und Unternehmergeist. Kreative Freiheit und Verantwortung.

Die Erde hüten und den eigenen Lebensunterhalt bestreiten.

Irgendwie wundert es mich nicht, dass sie bei ihr so gut funktioniert, diese Gratwanderung. Bodenständig und tatkräftig wie sie ist, und dennoch von der heilsamen Ruhe des gleichmäßig durch die Finger gleitenden Fadens genährt.

Veronika "spinnt" also keineswegs, und wenn, dann nur in der schönstmöglichen Auslegung des Begriffs.

 

Eine letzte Frage habe ich noch an sie, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Meine Leitfrage, die, die sich durch all jene Geschichten weben darf, die ich im Rahmen dieses Projekts zu Papier bringe: Warum es sich lohnt, altes Wissen und Naturhandwerk wie das ihre zu hüten, zu bewahren, weiterzutragen.

Veronika überlegt eine ganze Weile, bevor sie antwortet.

Das "ins Tun kommen", das Erschaffen mit den eigenen Händen ermöglicht es uns nicht nur, wegzukommen von der Wegwerfgesellschaft der modernen Industrie, sondern bindet uns auch auf eine heilsame, ganzheitliche Weise in die natürlichen Kreisläufe ein. Wir beschreiten hierbei den gesamten Prozess, vom Funken der Inspiration bis zum fertigen Werkstück, dürfen das Geschenk des von uns verarbeiteten Materials mit allen Sinnen erfühlen & erfahren, und werden uns nicht zuletzt unserer eigenen Schöpfungskraft wieder bewusst. Im Spiegel der Natur sehen wir uns selbst wachsen & werden, und kommen in Einklang mit dem großen Rad des Lebens.

 

Besser hätte ich es selbst kaum formulieren können und wie es so ist mit den Schicksalsfäden, finden auf geheimnisvollen Wegen einige Tage nach unserem Besuch bei Veronika die Worte Mahatma Ghandi's zu mir, die den Wert dieser besonderen Geschichte noch einmal zusammenfassen:

 

"Nimm Zuflucht zum Spinnen um den Geist zu beruhigen.

Die Musik des Rades ist Balsam für unsere Seele.

Ich glaube, das Garn das wir spinnen, ist in der Lage die

Risse in Kette und Schuss unseres Lebens zu flicken." 





Wer mehr über Veronika und ihr wunderwolles Wirken erfahren möchte, ist herzlich eingeladen, ihre Website zu besuchen. https://www.spinnkurse.de


Die in diesem Artikel verwendeten Bilder unterliegen dem Copyright von Carolin Burgert und dürfen nicht von Dritten verwendet werden.

Alle Texte sind geistiges Eigentum von Janna Myska und nicht zur virtuellen oder physischen Verfielfältigung freigegeben.



 
 
 

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