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Die Sehnsucht der Rehfrau



Warum es sich lohnt, altes Wissen zu wahren



Es ist 4 Uhr morgens.


Noch ruht die Nacht über den taufeuchten, frühsommerlichen Wiesen, doch vom Horizont aus flüstert sich der erste Streifen Morgenlicht über den Himmel. Grillenzirpen und die lieblichen Rufe der Singdrossel locken die schlafenden Wiesen langsam aus ihren Träumen.


Durch die friedliche Kulisse des Morgens schallt ein feines Surren. Eine Drohne steigt auf und beginnt ihre Suche nach kleinen, braun behaarten Körpern, die zwischen duftenden Frühlingsblumen und hohem Gras mit dem menschlichen Auge kaum auszumachen wären.

In der Wärmebildkamera der Drohne leuchten sie gut erkennbar auf, und wenn die Drohne ein solches Bild an das am Boden versammelte Team sendet, beginnt die Arbeit.


Der von der Drohne markierten Position folgend, wird das kleine, frisch gesetzte Rehkitz in der hohen Wiese aufgespürt, ohne es aufzuschrecken, und dann behutsam an den Wiesenrand getragen. Nur mit Handschuhen darf es angefasst werden, um keine fremden Gerüche aufzunehmen. Sonst würde es die Mutter, die es zuvor in diese grüne Wiege hineingesetzt hat, nicht mehr zu sich nehmen.


Es ist jedes Mal ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Kitze finden und aus der Wiese holen, bevor der ohrenbetäubende Lärm des Kreiselmähers die Luft durchschneidet. Wer auch immer ihn steuert, hat von dort aus keinen Blick auf die hilflosen Rehkitze, und diese haben noch nicht die Reflexe, sich vor den scharfen Klingen in Sicherheit zu bringen. Ein Aufeinandertreffen wäre für das Kitz in jedem Fall tödlich.

Sobald gemäht wurde, werden die Rehkitze mit derselben Achtsamkeit, mit der sie herausgeholt und während der Zeit des Mähens betreut wurden, in die stoppelige Wiese zurückgebracht. Meist kommt nach einigen Stunden die Mutter zurück, um ihren Nachkommen langsam den Weg in den Wald zu weisen.



Dort sind sie geschützt, und können zu sanftmütigen, majestätischen Hütern des Waldes heranwachsen. Nicht alle schaffen es, aber für die, die vor den Fängen des Kreiselmähers gerettet werden, gibt es zumindest Hoffnung.


So erzählte mir Ina bei einem unserer ersten Treffen von ihrem Erleben der Rehkitzrettung.

Zwischen April und Juni birgt die Rehkitzrettung-Ortenau, eine Initiative, die aus 19 über den Ortenaukreis im Schwarzwald verteilten Teams besteht, bis zu 700 Kitze aus den Wiesen.


Siebenhundert Leben, die eine Chance bekommen.


Manchmal werden Kitze von unkundigen Wanderern aufgelesen, die den kleinen, teils schwachen Wesen zu Hilfe kommen wollen. Fatal. Diese müssen dann von einer Auffangstation für Wildtiere gepflegt, großgezogen und wieder ausgewildert werden.


Im Mai des vergangenen Jahres, als die Welt in Blüte stand und die ersten, langen Sonnentage die nasse Kälte des Frühlings vertrieben, wurde ein Rehkitz bei Ina abgegeben. Die Aufzuchtstation überfüllt, eine Wiederauswilderung nicht mehr möglich. Weit öffnete sie die Tore ihres Schwarzwaldhofs, der auch schon Schafen, Hühnern, Wachteln, Hunden und einem Pony Heimat ist.



Über eine Woche lang kümmerte sie sich um das Kitz, gab ihm alle zwei Stunden ein Fläschchen Milch. Aber es genügte nicht. Am Ende konnte sie ihm nicht helfen, zu überleben. Ohne dass irgendwer den Grund hätte nennen können, verweigerte das kleine Geschöpf die Nahrung. Starb schließlich in Ina's Armen, die erschüttert und tief berührt zurückblieb.

"Es war ganz ruhig, als wisse es etwas", erzählte Ina mir später.

Vielleicht war es so, wissen andere Lebewesen doch so oft mehr als wir Menschen, von den Kreisläufen des Lebens und von dem, was kommt. Wie es wohl wäre, wenn wir das Lauschen wieder lernten?

Und so vernahm Ina im letzten Aufseufzen ihres Kitzes ein weiteres Mal die Botschaft, Wildtieren eine Stimme zu geben. Für diejenigen einzustehen, die ihre Stimme selbst nicht laut machen können.

Am nächsten Tag sei sie also wieder aufgestanden, morgens um vier, und habe 2 kleine Rehkitze aus den Wiesen gerettet. Diesmal habe sie gewartet, bis die Mutter das erste Kitz holen kam, das flapsig hinter ihr her über die Wiese tapste. Das zweite blieb geduldig wartend zurück, als ahnte es, dass ihm nun keine Gefahr mehr drohte, bis 2 Stunden später auch dieses Kitz von der Mutter abgeholt wurde. Ina's Augen funkeln, während sie erzählt.

Der Triumph des Lebens über einen unnötig frühen Tod.


Ihr nächstes Ziel sei es, sich für Wildwiesen einzusetzen, die erst im Juli, nach der Setzzeit der Rehe, gemäht werden, und dort einen Schutzraum für Rehe und andere Wildtiere zu erschaffen, fügt sie hinzu.



Ihr Liebe zur Natur, zur Wildnis mit all ihren Geschöpfen, habe sie schon als Kind gefunden. In endlosen Stunden, die sie durch Felder & Wälder stromerte, in ihrer Laubhütte spielte, oder Kaulquappen aus dem nahe gelegenen Bach nach Hause brachte, um sie aufzuziehen, barg Ina die kostbaren Schätze des Bestaunens, Beobachtens, Bewunderns der Natur, die uns im Laufe des Lebens allzu oft wieder abhanden


Ihre Eltern hatten wenig Zeit, überließen sie meist ihrem sorglosen Spiel im Grünen oder der Obhut der Großeltern. Doch wie es in den meisten Geschichten eben ist, erfuhr diese innige Beziehung zwischen Ina und der Wildnis bald einen tiefen Bruch.

Die ungeliebte Schulzeit stand an, und die Trennung der Eltern brachte bald darauf einen Umzug mit sich, in eine Betonburg inmitten der lauten Stadt, direkt an der Hauptverkehrsstraße. Von nun an spielte sich Inas Leben hauptsächlich in geschlossenen Räumen ab. Es zählten Ordnung und Leistung, das Befolgen eines ausgetretenen, breiten Weges fernab der wilden Bachläufe und Hecken, Schlupfwinkel und Wälder. Schule, Ausbildung, Arbeit - nicht einmal einen Beruf, der ihrem kreativen Geist entsprach, durfte sie wählen. So wurde sie Versicherungskauffrau, lernte zu funktionieren im großen Hamsterrad des Finanzwesens, deren Fängen sie trotz der dumpfen Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, über viele Jahre nicht mehr entkam.

Irgendwann war sie ausgebrannt. Alle Reserven aufgebraucht für ein Leben, in dem sie gar nicht zuhause war. Körper und Seele kapitulierten.


Doch Ina ließ sich nicht kleinkriegen, von dem Gefühl der Ausgebranntheit und Sinnentleertheit dieser Zeit, im Gegenteil. Für sie war dieser Aufprall auf dem Boden ihrer körperlichen & geistigen Gesundheit ein lang ersehntes Wachläuten. Er diente ihr als Schwellenübertritt in ein neues Leben, eine neue Berufung.

Half ihr, noch einmal wirklich in sich hineinzulauschen, und wie von Ferne ein leises Vogelzwitschern aus Kindertagen zu vernehmen. Ein Wegweiser.

Und so verließ sie ihre trostloses, wenig heimeliges Zuhause in der Finanzwelt, verkaufte Immobilien und Firma, erwarb so mit ihrem Mann einen Hof im Schwarzwald und restaurierte ihn in vielen Jahren liebevoller Arbeit. "Wieder einwalden", nannte sie diesen Prozess.





Umgeben von Wald, Garten und ihren Tieren, fand Ina die Kraft & Inspiration, ihrer Vorstellung von einem intakten Zusammenleben zwischen Mensch & Natur nicht nur selbst zu folgen, sondern sie auch in ihr Umfeld auszustrahlen.


Draußen, in der Natur, vor der Haustür wieder einwalden - heimisch werden ist ihr wichtigstes Anliegen.


In Offenburg entstand dieGrünerei, ein kollektiv gestalteter Raum, der im trubeligen Stadtgeschehen eine Oase der Vernetzung und eine Plattform für Seminare rund um Naturverbindung & Heilkunde bietet.


Mehr als einmal fragte ich mich, wie all diese Projekte, der Hof, die Tiere, die Rehkitz-rettung & dieGrünerei, von nur einer Person zu bewerkstelligen seien.

Die Antwort darauf fand ich immer in Ina selbst. Ihre Energiequelle ist die tiefe innere Überzeugung, etwas bewirken zu können. Ihre Motivation - die Liebe zu allem, was natürlich, ursprünglich, unberührt ist. Und vielleicht auch die tief einschneidende Erfahrung, wie es sich anfühlt, diese innige Verbindung zur Natur zu verlieren.



Ein ums andere Mal nannte ich sie eine Spinne. Sah sie die Fäden verweben, die ihr in die Hand gegeben wurden, um Menschen miteinander zu verbinden und Räume & Projekte entstehen zu lassen; immer das diesen Verbindungen innewohnende Potential erahnend, etwas zu verändern, zum Guten hin.

Mehr noch als eine, die Fäden spinnt, ist Ina eine Macherin. Sie sieht, an welchen Stellen es Initiative braucht, und packt zu. Zögert nicht lang. Ist sich klar über ihre Wirkungskraft. Fokussiert ihre Aktion in Richtung dessen, was sie sich wünscht, in der Welt zu sehen.

Eine Brückenbauerin, könnte man sagen.


Ich kann mich nicht genau erinnern, warum mich zu Beginn des vergangenen Jahres wie urplötzlich der Impuls erteilte, Ina zu besuchen. Ich hatte von der Grünerei in Offenburg gehört, diese Information aber irgendwo in den hinteren Winkeln meines Unterbewusstsein verstaut. Vielleicht war es Schicksal, dass ich eines Tages den feststehenden Beschluss in mir fand, zu ihr ins Nachbartal zu fahren, um mich vorzustellen. Vielleicht folgte ich der wagen Ahnung einer fruchtbaren Verbindung...

Vom ersten Moment an war Ina herzlich, willkommenheißend & offen gegenüber ihrem unangekündigt Gast. Als würde es sie überhaupt nicht wundern, dass ich hergekommen war. Ich weiss noch, dass mir auffiel, wie oft sie lachte, und wie ehrlich dieses Lachen seinen Weg bis in ihre Augen fand.


Sie servierte Kaffee und erzählte von ihrer Geschichte und ihren Visionen. Ich teilte von meinem langjährigen Weg durch die Welt der Pflanzenheilkunde, und meinem Seelenruf, die Botschaften der Natur auf künstlerische Weise auszudrücken.

Sie sprach von der Rehkitzrettung und ich von meiner eigenen, besonderen Verbindung mit diesen sanften Tieren.

Vieles war uns von jener ersten Begegnung an gemeinsam, auch das gebrochene Herz darüber, wie weit viele Menschen sich doch entfernt haben von der heilsamen Natur, dem Herzschlag der Landschaft und dadurch auch von ihrer eigenen Lebendigkeit.


Wie viel verloren gegangen ist von dem alten Wissen um ein Leben in Einklang mit der Natur als Mutter & Ursprung.


Es mag pathetisch klingen, und entspricht doch der traurigen Wahrheit unserer Zeit:

Wir können die Stimme der Wildnis nicht mehr hören.




Noch während dieses ersten Treffens, erzählte mir Ina von einem weiteren Traum, wohl ahnend, dass sie diesen Samen auf fruchtbaren Boden fallen ließ.


STORIES.

Ein Projekt, dass nicht nur Wildtieren, sondern auch Wissenshütern eine Stimme geben soll. Das denjenigen, die in dieser allzu virtuell geprägten Zeit nicht unbedingt selbst das Zepter ergreifen können, um ihre Geschichte, ihr Vermächtnis & ihre Leidenschaft zu verkünden, einen Raum schenkt.

Einen Raum, in dem Menschen aus ihrem unerschöpflichen Erfahrungsschatz teilen dürfen.

In langen Lebensjahren zusammengetragenes Wissen weitergeben können.

Auf Ohren stoßen, die lauschen und lernen wollen.


Dafür, so eröffnete Ina mir leise lächelnd, brauche sie noch jemanden, der schreiben könne. Jemanden, der diese wertvollen Einblicke in Jahre der gelebten Naturverbindung bezeugen und in schriftlicher Form festhalten wolle. Jemanden, dem es am Herzen liege, dem Ungesagten, den verborgenen Schätzen in der Geschichte jener Menschen, Ausdruck zu verleihen, und ein lebendiges Netz aus Erzählungen zu spinnen, die anderen als Inspirationsquelle für ein Leben & Handeln im Sinne der Natur dienen können.

Ohne dass wir uns kannten, und ganz im Vertrauen in das spürbare Band an gemeinsamen Visionen zwischen uns, bot Ina mir diese Aufgabe an. Als hätte sie gewusst von meiner Leidenschaft zu schreiben, meiner Liebe zu Worten, meinem Wissen um deren Kraft.

Ich hatte ja gesagt, noch bevor wir 2x blinzeln konnten.

Also verbündeten wir uns.


Ina, die mit den Tieren spricht und im Hintergrund die Fäden spinnt, & ich, Janina, die die Pflanzen versteht und die ihre Worte leiht, um nun auch die Geschichten von Menschen aufzuzeichnen.


Die Geschichten von Menschen, die eine inspirierende, wegweisende Verbindung zur Natur hegen. Die Geschichten von Menschen, die sich dem Hüten der Erde und ihrer Schätze hingeben.


Und so beginnt unsere Reise, eine Reise zu verschiedenen Menschen, die wir im Laufe der Zeit treffen und begleiten werden bei dem was Sie lieben. Seien es Hüter alten Handwerks und alter Bräuche, Pflanzenkundige, Beschützer von Wildtieren, Lebenskünstler oder Forscher auf den Spuren alter Kraftorte...



Allem zugrunde liegt die tiefe Hoffnung, das Flüstern der Erde, der beseelten, lebendigen Natur wieder zugänglich zumachen. Die Botschaft der Wildnis verständlich und erfahrbar werden zu lassen, und den Lesern & Leserinnen dieser Worte so einen Pfad aufzuzeigen, der zurück in unsere verlorene Heimat führt.


Die Heimat der Landschaft.

Diese Reise beginnt bei Ina, Tierflüstererin und Spinnerin von Lebensnetzen.





Die in diesem Artikel verwendeten Bilder unterliegen dem Copyright von Carolin Burgert und dürfen nicht von Dritten verwendet werden.



Alle Texte sind geistiges Eigentum von Janna Myska und nicht zur virtuellen oder physischen Verfielfältigung freigegeben.







 
 
 

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