top of page
Suche

Vom Geflüster der Heilpflanzen

Und von einer, die auszog, um ihnen zu lauschen



August. Einer dieser heißen, endlosen Sommertage, wie er im Buche steht. Die Luft schmeckt schwer und süß, und vibriert vom vertrauensvoll in den frühen Abend hineingesungenen Lied der Grillen. Die Wiesen nehmen langsam das Gold der abgeernteten Felder an, aber zwischen den Gräsern blitzen weiß, hellrosa, gelb und violett die Wildblumen und Kräuter des Frauendreißigers. Der Frauendreißiger, das sind die Spätsommertage von Mitte August bis Mitte September, zu denen früher weise Frauen und Heilkundige ausschwärmten, um Kräuter zu sammeln. Wir sind bei Monika zu Gast. Um ihren kleinen hölzernen Bauwagen zu erreichen, müssen wir uns den Weg durch ein Dickicht aus Pflanzen bahnen - es ist ein gut versteckter Rückzugsort, der uns erwartet, eingebettet in einen wilden Garten. Hopfen rankt sich am Wagen entlang, ein Feigenbaum wartet daneben auf seine ersten reifen Früchte, es gibt Brombeeren, Zitronenmelisse, Rainfarn, sogar einen Gingkobaum, und ein neugieriges Huhn scharrt und pickt zwischen den Sträuchern umher. Im Wagen hängen Kräuterbündel von der Decke, in der Ecke stehen geflochtene Sammelkörbe. Draußen unter dem Gingkobaum steht ein kleiner Metallisch bereit, darauf ein Strauß Wiesenblumen. "Heimelig", denke ich, "und trotzdem ungezähmt..." Ein paar Brombeeren finden ihren Weg in meine emsigen Hände. Monika sieht mir zu und meint, das sei heute ihr Frühstück gewesen, Brombeeren und Giersch. "Wenn ich draußen in der Natur bin, komme ich immer satt nach Hause", sagt sie. Bevor wir uns mit einer viel zu späten Tasse Kaffee am Tisch niederlassen, erinnert sich Monika noch bestürzt an einen Eimer, der am Beetrand in der Abendsonne steht. Schnell deckt sie ihn zu und erklärt, sie habe Schnecken aus den Beeten herausgesammelt und wolle sie später noch zum Fluss bringen, damit sie nicht leiden müssen. So viel Ehrfurcht, selbst vor den vermeintlichen Feinden ihrer botanischen Gefährten...



Monika ist freiberuflich als Heilkräuterpädagogin tätig. Sie führt Menschen in die Natur und erspürt mit ihnen, welche Pflanzen am Wegesrand, im Wald & auf der Wiese für uns heilsam, nährend, kulinarisch oder medizinisch verwendbar sind. Sie erzählt dann mit funkelnden Augen von den Eigenschaften und Wesenheiten der Kräuter, ihre tiefe Verbindung schwappt über wie eine Welle. Gemeinsam wird gestaunt, gesammelt und das eine oder andere Rezept ausprobiert. Die Menschen gehen fast immer berührt, und bereichert. Monika's Hoffnung ist es, dass sie dazu inspirieren kann, sich mit der eigenen Landschaft vertraut zu machen, die Pflanzen dort erkennen und lieben zu lernen, und so eine nachhaltige, gegenseitige Beziehung dem Fleckchen Erde aufzubauen, das uns zu Füßen liegt. Was es für sie bedeutet, eine Pflanze wirklich zu kennen, frage ich. "Eine Pflanze wirklich zu kennen heißt, sie mit allen Sinnen zu erfahren." Das bedeutet zunächst, die Pflanze zu beobachten, ihre Blattform, ihre Farben, die Art und Weise, wie sie sich über die Jahreszeiten verändert. Allein in der Präsenz von Pflanzen zu verweilen, macht etwas mit unserem oft so überreizten System - wie jedes Lebewesen haben auch Pflanzen für uns wahrnehmbare Schwingungen. Monika meint, dass diese uns an Dinge erinnern können, die verborgen in unserem Herzen wohnen. Um welche es sich handle, sei für jeden anders. Pflanzen auf einer sinnlichen Ebene erfahren heißt auch, sie zu riechen, sich von ihrem Duft einhüllen und forttragen zu lassen. Sie zu schmecken. Monika erzählt, sie habe sie alle probiert, etwa so wie damals als Kind, zu einer Zeit, in der die Verbindung zwischen Mensch und Natur noch ein stückweit intakter gewesen sei, mehr Vertrauen da war in die Heilmittel der Erde. Ihr sei damals keine übermäßige Vorsicht angeraten worden, wie es heutzutage Gang und Gebe sei. Unerfahrenen empfehle sie allerdings in jedem Fall, ein Bestimmungsbuch zu verwenden, um Verwechslungen mit Giftpflanzen auszuschließen, ergänzt sie lachend.



Der Kontakt mit den Heilpflanzen, insbesondere ihr Geruch, versetzt Monika zurück in die verträumten Jahre der Kindheit. Aromastoffe sind bekannt dafür, dass sie unser limbisches System anregen - den Teil des Gehirns, der Erinnerungen speichert. Monika wuchs auf dem Land auf, auf einem Bauernhof, als eines von sechs Kindern naturverbundener Eltern. Ihre Mutter sei das ganze Jahr über barfuß gelaufen, habe die kleinen & großen Leiden des Alltags mit Pflanzen geheilt. "Auf ein aufgeschlagen Knie wurde immer zuerst frischer Spitzwegerich gelegt. Bei Erkältungen gab es Tee aus Gartenkräutern." Auch die Wohnung ihrer Tante, erinnert sie sich versonnen, roch stets nach Kräutern, überall gingen trocknende Sträuße. Sie erzählt voller Dankbarkeit, dass ihre Familie ihr viel Freiheit ließ, die Natur zu erforschen und ihren Träumen nachzuhängen. Fast ihre gesamte Zeit verbrachte Monika draußen in ihrer eigenen kleinen Welt, auf der Schaukel, kopfüber in Bäumen, oder im selbstgebauten Baumhaus in einem Haselstrauch. Aber auch das Mithelfen auf dem Feld oder im Garten liebte sie sehr. Das gesamte Hofleben richtete sich nach dem Jahreszeiten - sie spricht von der weißen Wäsche, die im ersten Frühlingswind im Garten flatterte, vom Stroh aus dem Schweinestall, das in der Sonne trocknete und einen warmen, heimeligen Geruch verbreitete, von der ersten Kornernte im August und davon, wie die Kinder die Garben bündelten, ebenso vom Kartoffelacker und Röstkartoffeln direkt aus dem Feuer, vom Apfelmost Trotten im Herbst und der Marmelade, die ihre Mutter aus Beeren einkochte... Ich kenne kaum einen Menschen, der Bilder wie die, die Monika mit ihren Erzählungen in den Abendhimmel zeichnet, nicht heimlich & sehnsuchtsvoll im Herzen trägt!


Wie es oftmals so ist, verlief sich Monika's enge Beziehung zur Natur über die Jugendjahre, fiel in einen dämmrigen Schlaf, während andere Dinge wichtig wurden. Sie heiratete früh, bekam einen Sohn, später eine Tochter. Neben ihren Aufgaben als Mutter arbeitete sie in einem Schwarzwälder Keramikbetrieb, dann in einer Druckerei. Irgendwann, vor ungefähr siebzehn Jahren, änderte sich alles. In einem Buch las sie, dass es möglich sei, komplett von der Natur zu leben. Dieser kleine Absatz weckte einen ungeahnten Eifer in ihr, und sie begann ein tollkühnes Experiment - mit Erfolg. Zwei Jahre lang lebte Monika tatsächlich fast ausschließlich von dem, was ihre Umgebung ihr schenkte. Mit wenigen Außnahmen wie Nüssen, Trockenfrüchten und einiger Vorräte im Winter, versteht sich. Selbst Tee trank sie in dieser Zeit kaum, stattdessen trank sie frisches Wasser und naschte die Teekräuter direkt vom Strauch. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie sich um Jahre jünger gefühlt habe, wie viel Energie sie damals plötzlich gehabt habe, genug zum Bäume ausreißen, und wie viele ihrer körperlichen Beschwerden und Schmerzen urplötzlich fort gewesen seien. Oft habe sie es gar nicht fassen können, wie viel Nahrung und Medizin in der Natur zu finden waren, fühlte sich nach ihren Streifzügen durch Wald und Wiese berührt von der Vielfalt & Güte der unaufhörlich schenkenden Erde. "Es war der Beginn einer langen, tiefen Liebesgeschichte." Nicht selten wurde Monika ungläubig darauf angesprochen, wie das möglich sei, wie man all seine Bedürfnisse auf diese wilde Weise decken könne. Schon bald keimte der Wunsch, ihre Leidenschaft mit anderen zu teilen, und sie begann eine Ausbildung zur Kräuterpädagogin an der Gundermannschule bei Freiburg. Dort lernte sie nicht nur, sich von Wildpflanzen selbst zu ernähren, sondern auch die Herstellung von Heilmitteln, von Tinkturen, Ölauszügen und Salben. Gern denkt sie an diese Zeit des intensiven Lernens & Erforschen zurück, die zugleich auch die Anfänge ihrer Zeit als Lehrende waren. Obgleich sie nie mit ihrem Wissen um die Kraft der Heilpflanzen missionieren ging, hoffte sie doch, zu inspirieren.


Ein ums andere Mal sei ihr freilich auch etwas Hexisches, Verrücktes angerichtet worden. Das Sammeln & Verarbeiten von Wildpflanzen galt damals noch als mindestens seltsam, war im kollektiven Unterbewusstsein verknüpft mit einem düsteren Kapitel der europäischen Geschichte, das die uns innewohnende Verbindung zur Natur und jene, die sie praktizierten, dämonisierte.


Heute erleben wir in dieser Hinsicht einen Umbruch. Höchste Zeit, denn es gibt viele Wunden, die auf Heilung warten - sowohl die einer zerrütteten Natur, als auch die der menschlichen Seele, die durch eben jene Entfremdung von unserem natürlichen Lebensraum entstanden sind. Monika sieht das Ur-Wissen um die Geheimnisse der Heilpflanzen als wichtigen Teil des Wandels, den wir durchschreiten - durchschreiten müssen. Und hierbei geht es keinesfalls darum, die Pflanzen als nurmehr eine weitere Ressource zu sehen, die wir nutzen, ausnutzen können, um unseren eigenen Vorstellungen zu dienen. Es geht um Einfachheit, Lebendigkeit, Präsenz, ein "wieder zu sich kommen" und "wieder eingewoben werden". Es geht um ein tiefes Lauschen, denn die Erde singt, und das nicht zuletzt durch Wiesen und Gärten... "Manchmal rührt mich das zu Tränen, was alles da ist. So viel Schönheit, so viel Medizin. Wenn ich auf der Wiese sitze, befinde ich mich oft an der Grenze zu dem, was mit dem Verstand greifbar ist..." Ich weiß genau, was Monika meint. War schon so oft an dem Punkt, an dem mich die bedingungslose Präsenz eines Pflanzenwesens sanft aus meinen Sorgen und Zweifeln wiegte. Mich zurück in den Körper holte, wenn meine Gedanken sich verknoteten. Ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl, das umso stärker ist, wenn man es selbst erfährt. Was für eine Medizin für unsere schnelllebige Zeit, in der wir uns von so vielem abhängig machen, was uns eigentlich nicht gut tut. Dabei ist doch gegen alles, was uns belastet "ein Kraut gewachsen", und nicht nur eines. Sogar gegen die Hektik, die Entfremdung und das kollektive Vergessen des ursprünglichen, lebenswerten Seins.



Sie hege große Hoffnung, sagt Monika, dass solche Begegnungen mit den heilenden Kräften der Natur uns wieder zurückführen können, an unseren Platz im großen Gefüge aller lebendigen Dinge & Wesen. Dies sei das Vermächtnis der Pflanzen, welches sie seit Urzeiten hüten und an uns weitergeben. Für eine unbeschwerte Stunde schlendern wir zusammen durch den anliegenden Garten, über die Wiese, und ich schaue Monika dabei zu, wie sie einen geflochtenen Korb bedächtig mit kleinen Kräutersträußen füllt. Beifuß, Minze, Oregano... Zurück am Bauwagen blinzeln uns die letzten Johanniskrautblüten entgegen, direkt neben der Türe prangt ein stattlicher Büschel Rainfarn. „Schön ist es hier“, denke ich.


Während unser Abend sich dem Ende zuneigt, zaubert Monika noch ein kleines, buntes Festmahl auf den Tisch. In einer Schüssel warten zahlreiche kleingeschnittene Kräuter und Blüten darauf, an behutsam eingetauchten Butterbroten haften zu bleiben. Dazu gibt es Limonade. Einfacher und beglückender kann ich mir eine Mahlzeit kaum vorstellen. Ob sie eine Lieblingspflanze habe, frage ich Monika zum Abschluss. Sie denkt eine ganze Weile nach. "Vielleicht die Gundelrebe. Oder die Malve. Der Frauenmantel, oder die Königskerze, die dieses Jahr so hoch gewachsen ist... Nein, das kann ich nicht entscheiden. Es ist wirklich die Vielfalt, die mich am meisten berührt."




Alle Texte sind geistiges Eigentum von Janna Myska und nicht zur virtuellen oder physischen Verfielfältigung freigegeben.







 
 
 

留言


bottom of page