Über die Kunst, die Landschaft zu lesen
- maxschaefer2
- 17. Mai 2024
- 9 Min. Lesezeit
Und warum wir sie brauchen, um vom Land zu leben

Es ist ein trüber Vormittag im April, unsere Füße sinken ein in den von zahlreichen Regentagen aufgeweichten Boden unter uns und hinterlassen ihre Spuren. Wir sind selbst hier, um uns mit Spuren zu beschäftigen - allerdings mit solchen, die keinen sichtbaren Abdruck hinterlassen. Spuren der Landschaft. Wir gehen mit Konrad, einem Schwarzwälder Bauern, über die feuchte Wiese hinter seinem Hof. Auf seinen von der ruppigen Landarbeit gezeichneten Händen, die er vor seinem Körper angewinkelt hat, liegen lose zwei gebogene Metalldrähte. Wir starren wie gebannt auf deren Enden, während Konrad sich langsamen Schrittes einem ganz speziellen Punkt auf der Wiese nähert. Und wie von unsichtbaren Fäden bewegt, beginnen die Drahtenden sich zu überkreuzen... Ein zweites, drittes, viertes Mal demonstriert Konrad uns diesen Vorgang, lässt es uns auch selbst versuchen, bis wir schließlich überzeugt sind: Eine willentliche Manipulation der Bewegung der Drähte ist über die Hände nicht möglich! Konrad erklärt uns, dass er uns zu einem Ort geführt habe, an dem er einst einen besonderen Stein gefunden habe. Zwar befindet sich dieser bemooste Brocken nun bei ihm auf dem Hof, aber an seinem ursprünglichen Platz auf der Wiese sei er nicht umsonst platziert worden, denn es handle sich um einen Kraftort. Einen Treffpunkt von Wasseradern, Erdbrüchen und Kreuzungen des energetischen Gitternetzes, das sich um die Erde webt.

Wir befinden uns auf einem sogenannten Rutengang, und somit auf den Spuren einer längst vergessenen Kunst. Nämlich derer, die Zeichen der Landschaft zu deuten, auch jene, die unser bloßes Auge nicht wahrzunehmen vermag. Von der modernen Wissenschaft belächelt, beruft sich diese Tradition jedoch auf ein uraltes Wissen, dass der Erde und den in engem Kontakt mit ihr lebenden Völkern innewohnt. Für den von einer intimen Verbindung mit der Natur als Quelle und Ursprung des Lebens mittlerweile weit entfernten modernen Geist sind diese alten Traditionen und Perspektiven kaum zu erfassen. Zu gern zweifelt er an allem, was nicht beweisbar, mit verifizieren Methoden messbar ist.
Aber hier geht es um etwas anderes, etwas unsagbar wertvolles - das Wiedererlernen des Spürens.
Nicht umsonst sind uns von beinahe allen großen Naturvölkern und Zivilisationen meisterhafte Bauten erhalten geblieben, die an ebensolchen besonderen Kraftorte errichtet wurden, an denen die Energieströme der Erde besonders stark zu fließen scheinen, und hiervon sind auch die Klöster, Wallfahrtskirchen und Gehöfte der letzten Jahrhunderte nicht auszuschließen. Als ob uns diese Kraftorte erinnern wollen, daran, dass die Landschaft, die uns umgibt, etwas zutiefst Lebendiges ist, das sich mit den von ihr beheimateten Lebewesen in einem stetigen Dialog befindet...


Ein halbes Jahr vor unserem gemeinsamen Rutengang, an einem nicht weniger trüben Novembermorgen, sind wir das erste Mal bei Konrad eingeladen, und finden uns, dem Nieselregen entfliehend, bald an einem grossen Tisch in der Stube wieder, umringt von Bücherregalen. Seine Frau beschenkt uns mit frischem Kaffee und selbst gebackener Linzertorte - mit Rohmilch, Butter und Walnüssen vom eigenen Hof, und aus ungespritzem Obst gekochter Marmelade.
Zwar sind wir gekommen, um mit Konrad über das faszinierende Feld der Kraftorte zu sprechen, doch füllt zunächst eine andere Geschichte den Raum - die seines Hofes, und seines Broterwerbs.
Es ist ein alter Meierhof, auf dem wir uns befinden, auf den klösterliche Ländereien verwaltet und bestellt wurden. Damals wurde das Land noch wie selbstverständlich auf nachhaltige, ökologische Weise bewirtschaftet. Mit Hand und Tier, sozusagen. Während Konrad erzählt, breitet er eine Reihe alter Fotos und Dokumente vor uns aus, etwa Schwarzweißaufnahmen des Hofes, von Besuchern ausgefüllte "Nachtzettel" und die alte Brenngenehmigung.
Ende des 18. Jahrhunderts haben seine Vorfahren den Hof vom Markgrafen erworben, berichtet er. Ich bemerke, dass seine Augen funkeln, während er über die Vergangenheit dieses Ortes spricht, wie die von einem, der sich mit seiner Geschichte und seiner Ahnenlinie auseinandergesetzt hat, und um deren Geschenke weiß. Den Wert des über Jahrhunderte angesammelten alten Wissens erkannt hat, dass zwischen diesen Gemäuern lebt.

Das sei aber nicht immer so gewesen, winkt Konrad lachend ab. Sein Vater habe ihn zwar schon als Kind gelehrt, beim Aussäen von Samen ein Gebet für die Erde zu sprechen und sei mit ihm in den Wald gegangen, nicht zuletzt um anhand des Umarmens von Bäumen das Kopfrechnen zu lernen; er habe als junger Bub jedoch wenig Interesse an all dem gezeigt. Trotzdem war es an ihm, die notwendigen Aufgaben zu erlernen, um den Hof, der den Haupterwerb seiner Familie darstellte, eines Tages weiterzuführen. Er malt Bilder der Erinnerung, etwa das eines Sonntags in den 50er Jahren, an dem die Bauern umliegender Höfe ihr Vieh am Strick ins Dorf führten, um es zu verkaufen, und danach zum all-wöchentlichen Kirchgang antraten. Kaum vorstellbar in unserer von der Technik beherrschen Zeit, und doch ist mir, als höre ich entfernt die Glocken läuten... Irgendwann habe er dann den Hof übernommen, berichtet Konrad weiter. Durch Schulungen und Studienreisen erlangte er nicht nur einen gewissen Grad an Weltoffenheit, sondern vertiefte sowohl sein Verständnis von der Landwirtschaft im Wandel der Zeit, als auch sein Gespür für verschiedene Landschaften und deren Eigenschaften. Oft habe es ihn in die Berge gezogen. Es ist ein kluger, wissbegieriger Mann, der da vor mir sitzt, einer, der nicht nur mit den Händen, sondern auch mit seinem Geist zu arbeiten weiß...

Es wird Kaffee nachgeschenkt, und ein Anflug von Schwere senkt sich über den Raum, als Konrad aus der Vergangenheit zurückkehrt, um vom Schicksal der Kleinbauern und traditionell geführten Höfe in der heutigen Zeit zu erzählen. Die fortschreitende Industrialisierung und Digitalisierung zwinge die Bauern in die Knie, bezeugt er betrübt. Internationale Großbetriebe, die die Natur im Sinne des Profits ausmelken, anstatt sie zu würdigen, schaffen Standards, mit denen kaum mitzuhalten sei. Viele Bauern müssen Kredite aufnehmen, um die Kosten zu decken, die das Erfüllen dieser Standards mit sich bringe - das Ausweiten von landwirtschaftlicher Nutzfläche und Tierbestand, teure Maschinen, Lizenzen, Versicherungen... Vorbei die Zeit der Arbeit mit Hand und Tier, im Einklang mit dem langsamen, stetigen Rhythmus der Natur. Stattdessen gerate man in die Fänge eines strengen Netzes aus Rechtsvorschriften und deren Überwachung, müsse alles auf Wachstum ausrichten und diesem unaufhörlich hinterherlaufen. Viele ältere Bauen würden ob dieser komplexen Situation das Zepter abgeben, an Jüngere, die vielleicht besser in der Lage seien "mitzuspielen". Wachsen oder weichen, heiße es. Und die Seele des Berufs? Das Spüren, Wahrnehmen, die Verbindung mit dem Land? Blieben dabei auf der Strecke. Sowohl die Nachhaltigkeit, als auch das alte Wissen gingen der Landwirtschaft verloren, und diese Entwicklung, beendet Konrad seine Ausführungen, würde sich irgendwann rächen. Ich spüre in seinen ehrlichen Worten nicht nur das Betrauern dieser Missstände, sondern auch ein tiefgreifendes geopolitisches, wirtschaftliches und geschichtliches Verständnis der komplexen Situation. Und den mutigen Entschluss, sich darin selbst treu zu bleiben.
Auch ihn persönlich betrifft das Schicksal der Kleinbauern. Früher zählte sein Hof über hundert Tiere und etliche Hektar Acker wurden bewirtschaftet. Heute hält er nurmehr eine handvoll Kühe, und diese seien auch eher Freunde, die ihn mit einem Kännchen Milch für den morgendlichen Kaffee beschenken, als Nutztiere. Bei seinen Kühen fühle er sich wohl, hier kommen ihm die besten Ideen, lacht er. Auf dem Bauernmarkt betreibt Konrad mit seiner Frau noch immer einen kleinen Marktstand mit selbst angebaute Gemüse, nicht um des Ertrages willen, sondern vielmehr für die Möglichkeit des sozialen Austauschs und der Verbindung.
"Solange ich kann, mach ich das!", sagt er. Die Schwermut darüber, dass die glanzvollen Tage des Hofes der Vergangenheit angehören, ist spürbar.


Das Schicksal der Bauern, von dem Konrad leidenschaftlich berichtet, ist das Schicksal vieler alter Berufe, die vom wirtschaftlichen Fortschritt eingeholt werden und im Zuge dessen vom Aussterben bedroht sind. Das Sterben dieser Berufe reißt jedoch weit mehr mit sich in den Tod als nur die Arbeit selbst. Hinter jeder von Hand ausgeführten, nach traditionellem Vorgehen verübten Tätigkeit steht ein tiefes Verständnis um die Symbiose
zwischen Mensch und Landschaft.
Das Land schenkt die Rohstoffe, die Werkzeuge und Arbeitsmaterialien, und gibt den Rhythmus der Arbeit vor. Der Mensch nimmt die Geschenke dankend an, studiert in langjährigen Beobachtungen die natürlichen Zyklen und ihre Geheimnisse, und macht sie sich auf eine Weise in seinem Handwerk zunutze, die der Natur nicht schadet. So war es bei den Naturvölkern, bei den ersten Siedlern, die Ackerbau & Viehzucht betrieben, und so war es Jahrhunderte lang auch bei den Bauern. Die Menschen des einfachen Volks, die vom Land lebten, wussten es seit jeher zu lesen & zu spüren - schlichtweg, weil sie darauf angewiesen waren. Sie wussten um Regen, Wind und Wetter, um Bodenbeschaffenheit und Wasseradern, Nutztiere, Schädlinge und Insekten, um Heilpflanzen, Bäume, Holz und den Verlauf der Jahreszeiten, die das Land umtanzten. Das Wissen um die Kräfte und Kreisläufe der Natur und deren Bedeutung ist ein lebendiges Wissen, das eben nicht unbedingt messbar, datierbar und kontrollierbar ist, es ist mündlich überliefertes Wissen geprägt vom Zwischenspiel aus Mensch & Natur im Wandel der Zeit. Als wir auf diesen Punkt zu sprechen kommen, meint Konrad lachend: "Das Aufgeschriebene wird immer durch die Brille dessen gesehen, der schreibt."
Heutzutage erhalten niedergeschrieben Messdaten einen weitaus höheren Stellenwert als über Jahrhunderte weitergegeben, mündliche Traditionen. Das, was für Naturvölker einst selbstverständlich war, das nicht Sichtbare, Spürbare, wird zum Großteil als Hokuspokus abgetan - wie zum Beispiel das Rutengehen. Hauptsächlich Kinder und Tiere haben darauf noch Zugriff, können die Sprache der Landschaft noch hören und verstehen, meint Konrad und berichtet von einem Ereignis am Hof. Stunden bevor nicht weit entfernt ein Erdbeben ausbrach, habe er beobachtet, wie sich seine Kühe dicht in einer Ecke des Stalls zusammendrängten - ein ungewöhnliches Verhalten. Später, nachdem die Wellen des Erdbebens vorübergezogen waren, habe man an genau der Stelle, wo die Kühe gestanden hatten, eine Störzone festgestellt.

Früher hatte jede Hochkultur ihre eigenen Rutengänger, bis zu 8000 Jahre lässt sich der Gebrauch von Ruten zum Aufspüren von Wasseradern, Metallvorkommen und geologischen Verwerfungen zurückverfolgen, wobei eindeutige Belege erst seit dem Mittelalter bestehen. Radiästhesie nennt sich die Lehre dieser Phänomene heutzutage, wohingegen sich ihre Schwester, die Geomantie (von lat. "geomantia" = Weissagung aus der Erde), darüber hinaus mit der Seele, der Essenz eines Ortes befasst - und nicht zuletzt damit, welchen Einfluss diese auf uns hat, und wie wir im Einklang mit ihr agieren können. Doch der Beruf des traditionellen Rutengängers ist mittlerweile ausgestorben, und es gibt kaum noch Menschen, die ihn praktizieren. Eine Begegnung mit einem solchen Rutengänger war es auch, die Konrad Mitte der 80er Jahre selbst dazu brachte, sich mit dem Thema Kraftorte auseinanderzusetzen. Aus einer Diskussion mit einer Gruppe von Touristen, die sich an den Äpfeln auf seinem Acker bedient hatten, ergab sich ein Gespräch über Kraftorte, deren Energien und ihrer Messbarkeit. Ein Mann aus der Gruppe bat Konrad daraufhin, ihm zwei Schweißdrähte zu besorgen, die er zurechtbog. Als sie damit über den Hof liefen, schlugen die Drähte aus, gerade als sie sich über einer bereits bekannten Wasserader befanden. Inspiriert von diesem Ereignis, begann Konrad sich mit der Radiästhesie und Geomantie zu beschäftigen, und fand bald seinen eigenen Zugang zu dieser alten Kunst. Heute, so sagt er, benutze er seine Ruten nur noch selten, aber die Ehrfurcht vor den Kraftplätzen sei geblieben. Er könne mittlerweile, und das sei mit einem klaren, freien Geist und etwas Geduld für jeden zugänglich, auch über die bloßen Hände die Schwingungen des elektromagnetischen Felds eines Ortes wahrnehmen. Sicher spiele da auch der Glaube mit eine Rolle, gibt er lächelnd zu. Sein Ansatz ist undogmatisch, pragmatisch, geerdet. Jeder so, wie es ihm taugt. Für Konrad ist es meist der Ruf der Berge, den er vernimmt, wenn er sich nach einer Kraftquelle sehnt - wie etwa der des Kandls, oder des Odilienbergs in den Vogesen.
"Wenn dort die Sonne unter oder der Mond aufgeht...", träumt er versonnen.
Für einen anderen sei es der Wald, wieder ein anderer finde seinen Kraft- & Ruheort in der Kirche. Wichtig sei es, den Ort würdevoll zu behandeln, ihm mit Respekt zu begegnen, ihn als gottgegeben oder von der Erde geliehen anzusehen.

Begibt man sich in eine solch achtsame Präsenz, können die Energien eines Ortes und die heilenden Kräfte der Natur auf körperlicher & seelischer Ebene Blockaden lösen, das System stärken, die Resilienz fördern - soweit hat es mittlerweile auch die Wissenschaft gebracht. Es ist erwiesenermaßen gesundheitsfördernd, sich immer wieder bewusste Räume zu schaffen um leer zu werden, und sich von der Natur neu auffüllen zu lassen - wie einen Krug mit klarem, frischen Quellwasser. Den spirituellen Wert dieser Praxis muss ein jeder für sich selbst herausfinden. Auf meine Frage, was das Aufsuchen von Kraftorten in unserer heutigen Zeit für eine Bedeutung haben, und wie es einen Wandel zurück zum Einfachen, zum Natürlichen, Ursprünglichen & Lebenserhaltenden begünstigen kann, antwortet Konrad mit einer Gegenfrage.
"Was gibt den Menschen die Energie, um für ihre Sache einzustehen?"
Jede große Veränderung kommt von unten, aus dem einfachen Volk, fügt er hinzu. Er könnte bodenständiger nicht sein, denke ich, inspiriert von seinen Ausführungen. Steht mit beiden Stiefeln wortwörtlich fest auf dem Acker, und hat sich das Gespür für die feinen, subtile Dinge dabei bewahrt. Erlaubt es der Wissenschaft und dem Glauben, sich in ihm die Hand zu reichen.
Die Natur lesen und verstehen zu können, bedeutet, zu ihr zurückzukehren, und damit einhergehend, sich vom profitorientierten Denken der Wirtschaft abzuwenden. Denn die Natur ist Heiligtum, Kraftquelle und Lebensgrundlage. Und sie selbst ist es, die uns die nötigen Ressourcen schenkt, die wir brauchen um sie zu schützen & zu erhalten.
Wir müssen nur horchen, und hinspüren...


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